Johann Theodor von Castelberg

1748 in Disentis/Mustér im Castelberghaus unterhalb des Klosters geboren, hielt er sich als Jugendlicher in Pavia auf, verpasste dort aber einen Studienplatz.1 Stattdessen heiratete er früh Maria Elisabeta von Capol aus Andiast und übernahm ab 1766 die Stelle als Schreiber des Oberen Bundes. Diese bildete das Sprungbrett zu noch höheren politischen Ämtern.2 So beteiligte er sich 1773 als erwählter Syndikator an der Rechnungsprüfung der Drei Bünde im veltlinischen Untertanengebiet.3 Anfangs Mai 1777 wurde er ein erstes Mal zum Landrichter gewählt. Dazu verfasste er – in deutscher Sprache – eine feierliche Ansprache.4 Ende dieser einjährigen Amtsperiode fand am 6. Mai 1778 die Neubeschwörung des Bundes mit einem Umzug in Trun statt. Das Aussenbild an der St. Anna-Kapelle gibt diese Szene wieder, wobei neben dem Abt von Disentis wohl bereits schon sein Nachfolger abgebildet ist.5

Pro 1780/81 wurde er wiederum zum Landrichter erwählt und beteiligte sich als solcher an der Aufstellung eines Kriminaltribunals für den Gesamtstaat der Drei Bünde. Wenige Jahre später gehörte er zur Untersuchungskommission zwecks Einrichtung eines Zuchthauses in Chur.6 In regionaler Hinsicht bemühte er sich um den Ausbau der Verbindungsstrasse Ilanz-Disentis und die Medelserstrasse, wozu er 1791 zum Delegierten ernannt wurde.7 Aus seiner Schreiberhand stammt ein sogenanntes Zeremonienheft, das die Eidesformel für die Justizbehörden (Mistral, Gerau, Seckelmeister, Scrivont) enthält.8 Als versierter Laienrichter übersetzte er auch deutsche Prozessordnungen ins Rätoromanische.

Bereits vorher beteiligte er sich an der ausserordentlichen Standeskommission, die sich um die Beschwerden der Untertanen im Veltlin kümmern musste. Als führender Deputierter in dieser Sache reiste er im Februar 1792 nach Mailand. Die dortigen Verhandlungen verzögerten sich – da Kaiser Leopold II. starb – und endeten für die dreibündische Deputation erfolglos.9 Die befürchtete Abspaltung des Veltlins führte mitunter zum revolutionären Aufruhr von 1794, der vom Lugnez ausging. Dabei wurde Johann Theodor als opportunistischer Politiker mittels Kampflieder heftig angegriffen.10 Durch die sogenannte ausserordentliche Standesversammlung wurden er und sein Vater neben vielen anderen Bündner Aristokraten wegen Korruption gebüsst.

Auf die labile ständische Gesellschaft geht seine «canzun dils stans» ein, wo in 36 Strophen ein humoristisch-sarkastisches Stimmungsbild aufgezeigt wird: «Grons monarhs e segneria o ils sezs han tuttavia / pauc u nuot dil tut de fa / audan bia, verdat nagina / vivan ord quittau adina.»11 Seine politische Einstellung war allerdings ambivalent. So hatte er als Privatperson die Eingabe der – revolutionär französisch gesinnten – Patrioten 1790 mitunterzeichnet, obwohl er als konservativ, katholisch und österreichfreundlich galt. Der Familienbiograph erklärt diese Widersprüche mit der Suche nach einem «dritten Weg» zwischen den verfeindeten Polen.12 Jedenfalls war er 1795/96 bereits wieder Landrichter und beteiligte sich als solcher an den Staatsgeschäften. Ab November 1797 tagte der sogenannte Landtag in Chur zur Rückgewinnung des inzwischen selbständigen Veltlins, wozu man die Eidgenossen um Hilfe bat. Hierzu unternahm Johann Theodor Missionen nach Zürich, worüber eine Druckschrift publiziert wurde.13

Nachdem der Anschluss der Drei Bünde an die Helvetische Republik – und damit die Politik der sogenannten Patrioten – scheiterte, wurde 1798 die herkömmliche Häupterregierung wiederum mit Landrichter Johann Theodor von Castelberg eingesetzt. Ende Jahr marschierten allerdings österreichische Truppen ein und besetzten grosse Gebiete Graubündens. Anfangs März 1799 rückte dagegen die französische Armee von General André Masséna vor. Diese konnte in Disentis/Mustér am 7. März noch heroisch zurückgeschlagen werden, bevor die rheinaufwärts drängenden Truppen aus Frankreich den Ort besetzten. Johann Theodor weilte noch in Chur, als sich der Landsturm, d.h. einheimische Milizen, erhoben und bis hinunter nach Reichenau stürmten. Dort wurden sie aber am 2. Mai blutig geschlagen. Die aufrückenden Franzosen rächten sich dann in Disentis, plünderten und brandschatzten im Dorf und im Kloster.14 Insgesamt sollen dabei 25 Personen gestorben, 107 Häuser und 115 Ställe verbrannt sowie viel Gross- und Kleinvieh umgekommen sein.15 Johann Theodor wurde als österreichisch gesinnter Parteiführer gefangen genommen und nach Salins im Burgund deportiert.16 Erst nach eineinhalb Jahren wurde er am 21. September 1800 freigelassen und kehrte in einen zerstörten Heimatort zurück.

Dort liess er sich in die neuen helvetischen Führungsstrukturen einbinden, wurde Distriktspräsident und nahm Einsitz in die neue Verwaltungskammer.17 Insbesondere kümmerte er sich um das ausgebrannte Kloster Disentis und den Wiederaufbau der Dorfkirche Sogn Gions.18 Dazu nahm er Schadensschätzungen vor und initiierte Sammelaktionen in der gesamten Schweiz.

Die kantonale Mediationsverfassung von 1803 stellte für ihn «eine mittlere Lösung» dar,19 indem sie zu den traditionellen föderalistischen Staatsstrukturen zurückfand. 1806/07 und 1815 war er Mitglied des Grossen Rats im neu gebildeten Kanton Graubünden. Dank seinem staatsmännischen Geschick erhielt die Gerichtsgemeinde Disentis 1814 höhere Repräsentanz, d.h. fünf anstatt nur zwei Stimmen im Parlament.20 Abgestimmt wurde ja immer noch mittels Mehrheit der gerichtsgemeindlichen Boten. Weniger erfolgreich kümmerte er sich um Genugtuungsforderungen der ehemals Deportierten.21

Inzwischen fand er auch Musse für literarische Beschäftigungen. Einzelne seiner surselvischen Dramen, die auf Übersetzungen basieren, sollen in Disentis/Mustér aufgeführt worden sein.22 Die entsprechend vorhandenen Manuskripte wurden allerdings erst später publiziert. Insbesondere seine Kampf- und Zeitgedichte fanden Eingang in die rätoromanische Literaturgeschichte. Auf ihnen beruht der ganze Mythos «dil temps dils Franzos»,23 welcher bis heute nachwirkt.

Erblindet starb der «letzte», offiziell amtierende Landrichter 1817. Gemäss Zeugnis von Pater Placidus Spescha, der nicht unbedingt ein Freund war, soll Johann Theodor von Castelberg von sehr witzigem Gemüt gewesen sein.24 Da seine Söhne bereits tot waren, wurde seine Tochter, die mit dem Bruder Joachim Liberat verheiratet war, Haupterbin.

Für Nachruhm sorgte Caspar Decurtins, der 1898 eine erste Biographie im Igl Ischi verfasste und anschliessend mehrere Texte in der Rätoromanischen Chrestomathie publizierte. Fan war auch Guglielm Gadola, der verschiedentlich mit Material aus dem Familienarchiv arbeitete. Selbst Iso Müller zählte Johann Theodor von Castelberg zu den fünf «Grossen» der oberen Surselva.25 In literaturhistorischer Hinsicht wurde seine Bedeutung dann relativiert und die effektive Aufführung seiner (übersetzten) Dramen untersucht.26 In seiner Vita, die von grossen gesellschaftlichen Umwälzungen gekennzeichnet war, zwischen revolutionären Aggressionen und dem Beharren am «Ancien Régime», nahm die sursilvanische Identität zweifellos eine grosse Rolle ein.

Dr. phil. Adrian Collenberg (*1966)
Studium in Allgemeiner Geschichte, Rätoromanistik und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Zürich Mitarbeiter der Schweizerischen Rechtsquellenstiftung
Verschiedene Editionen und Publikationen zu Rechts- und Sozialgeschichte in Graubünden

Fussnoten

1 Poeschel 1959, S. 388ff.; vgl. auch HBLS 2, S. 510; Schmid L., Johann Theodor von Castelberg 1748–1818, in: BB II (1970), S. 337–340; HLS 3, S. 229; LIR 1, S. 159.
2 Maissen 2004, S. 293.
3 Vgl. KBG Be 1503:260 und StAGR XV 19a/69.
4 Maissen 1990, S. 60; FamA A II c, 38.
5 Fry 1928, S. 207; KDGR IV, S. 425; Poeschel 1959, S. 391f.
6 Vgl. StAGR AB IV 1/147, S. 138f. 1781 wirkte er ein zweites Mal an der Syndikatur im Veltlin mit (StAGR AB IV 1/148, S. 384f.).
7 FamA A II a, 4; Sprecher 1875/1951, S. 176.
8 FamA A XI, 26.
9 FamA A II c, 36 und A VIII, 7; Poeschel 1959, S. 399.
10 Collenberg 2018, S. 181 und 183; SSRQ GR B III/1, Nr. 319.
11 RC I, S. 390–392; zum Manuskript vgl. FamA A II c, 10.
12 Rufer 1945, S. 244–249; Poeschel 1959, S. 397f. bzw.: «Mit seinem Herzen hängt er an der alten Ordnung, doch sieht sein Verstand klar genug, um zu erkennen, daß ihre Zeit vorbei und die Anpassung an neue Gedanken das Gebot der Stunde ist.» (S. 408)
13 «Relafun dil sigr. Landrichter Castelberg aigl ault lud. Landtag davart sia missiun en l’Helvefa», in; RC I, S. 375–378.
14 Castelberg 1996, S. 53ff.; Berther 2002, S. 76f.; Berther 2011, S. 102–105.
15 RC I, S. 407; Pieth/Hager 1913, S. 99ff. Unter den Toten befand sich auch Joachim Ludwig von Castelberg-Chischliun (Poeschel 1959, S. 356).
16 FamA A VIII, 16; LIR 1, S. 266.
17 FamA A VIII, 19 und A IX a, 10; zu den Strukturen vgl. Berther 2003, S. 33.
18 Poeschel 1959, S. 428ff. und 440; Fry 1941; Gadola 1954; Müller 1971, S. 174f.
19 Poeschel 1959, S. 427.
20 FamA A IX a, 42 und 46; Poeschel 1959, S. 443f.
21 FamA A VIII, 25.
22 Poeschel 1959, S. 445ff.; Vincenz 1999, S. 14f.
23 Condrau 1996, S. 113f.; Berther 2003, S. 92ff.
24 Poeschel 1959, S. 448.
25 Gadola 1953; Müller 1973, S. 46f.; Condrau 1996, S. 113f.
26 Deplazes 1988, S. 128–134; Vincenz 1999, S. 12ff.

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