Landrichter Conradin von Castelberg
Conradin von Castelberg der Ältere (†1626) benutzte seine Kinder für eine bewusste, standesgemässe Ehepolitik. Die verwandtschaftlichen Allianzen mit anderen Adelsgeschlechtern sicherten den Einfluss der Familie in der Region und darüber hinaus. Während der erstgeborene Sohn die geistliche Karriere einschlug, wurde der um 1608 geborene Conradin Berufspolitiker.1 Über seine Ausbildung ist nichts bekannt, doch ist zu vermuten, dass er an einer höheren Schule Jurisprudenz studierte. Er heiratete Anna Coray, Tochter des Ritters Johannes in Laax.
Sehr jung schon war er pro 1633/34 Landrichter des Oberen Bundes und bekleidete dieses Amt in den Nominationsjahren der Cadi kontinuierlich sieben Mal.2 Daneben wirkte er mehrfach als Landammann (Mistral) von Disentis und besuchte als solcher die Tagungen der Drei Bünde. Damit war er «während beinahe zwei Jahrzehnten der führende Magistrat des Oberlandes» – der spanischen bzw. kaisertreuen Partei gewogen.
Obwohl er keine einschlägigen militärischen Erfahrungen besass, wurde er 1635 zum Hauptmann im Regiment (De-)Florin zur Rückeroberung des Veltlins ernannt. Diese Offiziere hatte Herzog Henry du Rohan ernannt, da sie durch die französische Krone besoldet wurden.3 Nach Ausbleiben der Soldzahlungen führte Conradin seine Kompagnie als dreibündischer Hauptmann und nahm am Einmarsch ins Veltlin und der Besetzung des Schlosses Sondrio teil. Weil sich nach dem erfolgreichen Sieg keine Rückgabe der Untertanengebiete einstellte, wurde 1637 der geheime Kettenbund gegründet.4 Als amtierender Landrichter unterzeichnete Conradin von Castelberg als Erster diese Verschwörungsurkunde, die zum Abzug der französischen Truppen führte.
Bei den Friedensverhandlungen mit dem spanischen Herzogtum Mailand gehörte er im Juli 1639 zur bündnerischen Gesandtschaft nach Mailand. Für die Beteiligung an den Kapitulatsverhandlungen erhielt er eine goldene Halskette, zudem wurde er mit dem päpstlichen Titel «Ritter vom Goldenen Sporn» beehrt.5 Im folgenden Winter nahm er auch an der Gesandtschaft nach Innsbruck teil, die 1642 zur Erneuerung der Erbeinung mit dem Erzherzogtum Österreich in Feldkirch führte, an der er ebenso beteiligt war. Dabei erhielt Conradin wiederum eine Ehrenkette.6 Diese präsentierte er stolz auf seinem Portraitgemälde.
Er war ein Freund des päpstlichen Nuntius, langjähriger Vorsteher des dreibündischen Corpus Catholicum, in dessen Funktion er sich gegen die Neubeschwörung des Bundsbriefs von 1524 wehrte, da dieser den Bischof von Chur aussenvorliess.7 Bei den diesbezüglichen Vermittlungsversuchen der eidgenössischen Stände war er federführend, damit nichts anderes als der «heimliche König» der Surselva.8 1641, 1645 und 1651 reiste er als Syndikator (Rechnungsprüfer) ins Veltlin, wo er dann «erst» 1657/59 eine Stelle übernahm, dafür gleich die lukrative Podestatur in Tirano.9 Als gewiefter Stratege erwarb er sich einen guten staatsmännischen Ruf.
Zuhause war seine Klosterpolitik unter dem ungeliebten Abt Augustin Stöcklin sehr vor- und nachsichtig geprägt, worin man eine «aufrichtige Anhänglichkeit an das heimatliche Kloster» erkennen mag.10 1641 bereitete er dem neu erwählten Abt Joseph Desax ein Festmahl in Chischliun. Dieser wurde indes bereits 1642/43 durch Adalbert Bridler abgelöst. Unter diesem bemühte man sich – auf Druck der Kongregationsäbte – um einen Ausgleich zwischen Kloster und Gerichtsgemeinde Disentis.11 Der betreffende Vertrag, der am 19. Juni 1648 in Muri ratifiziert werden konnte, versuchte eine klare Trennung zwischen kirchlichen und weltlichen Angelegenheiten zu normieren. Aber bereits im Folgejahr brachen neue Differenzen beim Loskauf der Talschaft Urseren aus, an denen Conradin von Castelberg selbstverständlich involviert war.12
Zuvor hatte er 1637 Geld für die Disentiser Kirche St. Johann/S. Gions gestiftet, wo er auch Bänke aufstellen liess. Später schenkte er auch Ornate an das Benediktinerkloster. 1641, 1645 und 1647 übte er wichtige regionale Funktionen als Schiedsrichter aus.13 Er soll auch den «Fideicommiss Caschliun» begründet haben, womit die Aufsplitterung von Schlossgütern verhindert wurde, indem die Erbmasse geschlossen an den Erstgeborenen im Mannesstamm fiel. Dies bewirkte die Aufspaltung in die Johannes-Linie (Chischliun) und den Theodoricus-Zweig (Dorf).14
Im Januar 1652 verteidigte sich Landrichter Conradin am Beitag der Drei Bünde gegen persönliche Verleumdungen, worauf seine Amtsführung untersucht wurde.15 Hintergrund der Anschuldigungen dürfte wohl bei der Konkurrenz seitens Nikolaus/Clau Maissen aus Sumvitg liegen. Dieser Parvenue kämpfte gegen die dominante Stellung der Castelberg-Familie in der Cadi und damit im Oberen Bund.16 Die Gerichtsgemeinde Disentis besass schliesslich am meisten Wahlstimmen und damit Macht in bündischen Geschäften. Beim sogenannten Bullenstreit an der Disentiser Landsgemeinde von 1656 wurde er beschuldigt, kaiserliche Schutzbriefe zerstört zu haben und damit die fürstlichen Rechte des Klosters ausgelöscht zu haben.17 Erst dank Vermittlung der Kongregationsäbte und der Luzerner Nuntiatur konnten diese kirchenrechtlichen Streitigkeiten bereinigt werden.18 Das Verhältnis zum immer fanatischeren und mächtigeren Clau Maissen aber blieb getrübt.
Am 17. November 1659 starb er und wurde in der Dorfkirche Sogn Gions begraben, wo sein Grabstein noch existiert.19 Posthum wurde Conradin von Castelberg als ehemaliger Oberst und Mitverschwörer des «Kettibunds» von einem Strafgericht der Drei Bünde 1660 wegen Veruntreuungen angeklagt. Verantworten mussten sich seine Erben, die hierzu eine Druckschrift veröffentlichten. Von einem Bussenurteil, wie es anderen angeklagten damaligen Führungspersonen – u. a. auch Jörg Jenatsch – auferlegt wurde, wurde abgesehen.20
Der Benediktinerchronist Gabriel Bucelin lobte ihn wegen «magnus ingenio et auctoritate», wie auch die Chronik der befreundeten Familie Berther ihn als «sehr berühmt gewesen in allen Begebenheiten der Gemeinde Disentis» rühmt. Daneben war er ein guter Musikant; Talent, das er an seine vier Söhne und eine Tochter weitervererbte.21
Dr. phil. Adrian Collenberg (*1966)
Studium in Allgemeiner Geschichte, Rätoromanistik und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Zürich Mitarbeiter der Schweizerischen Rechtsquellenstiftung
Verschiedene Editionen und Publikationen zu Rechts- und Sozialgeschichte in Graubünden
Fussnoten
1 Poeschel 1959, S. 220ff.; vgl. auch HBLS 2, S. 509; HLS 3, S. 229; LIR 1, S. 158.
2 Collenberg 1994, S. 321; bei Maissen 1990 fehlt die erste Amtsperiode!
3 Müller/Berther/Gadola 1944, S. 92f.; Poeschel 1959, S. 222 u. 235; Condrau 1996, S. 76.
4 FamA A XI, 44; Sprecher/Mohr 1857, S. 211ff.; Pfister 1935, S. 72ff.; Pfister 1986, S. 328ff.
5 Poeschel 1959, S. 241ff. und 223.
6 Sprecher/Mohr 1857, S. 322f.; Poeschel 1959, S. 244.
7 Maissen 1956, S. 252ff.
8 Poeschel 1959, S. 245.
9 Collenberg 1999, S. 56; Brunold/Collenberg 2010, S. 65.
10 Poeschel 1959, S. 229; allgemein Müller 1952, S. 172ff.
11 Müller 1952, S. 89ff.; SSRQ GR B III/1, Nr. 834.
12 Müller 1984, S. 75ff.
13 FamA A I, 1; SSRQ GR B III/1, Nr. 833, 649 und 836.
14 Castelberg 1936, S. 68; Poeschel 1959, S. 254.
15 StAGR AB IV 1/28, S. 70 und 78.
16 Poeschel 1959, S. 250ff.; Maissen/Maissen 1985, S. 10ff.
17 Berther 1911, S. 3ff.; SSRQ GR B III/1, Nr. 838, Bem.; Fischer 2017, S. 248–251.
18 Müller 1955, S. 92; Fischer 2000, S. 359.
19 Poeschel 1959, S. 281.
20 FamA A XI, 44; Maissen 1968, S. 331ff; Poeschel 1959, S. 240.
21 G. Bucelin zit. nach Poeschel 1959, S. 255; Brunold/Collenberg 2010, S. 167; Müller 1951, S. 223.