Politiker Johann Ludwig von Castelberg

Um 1680 wurde Johann Ludwig von Castelberg als einziger Sohn des Disentiser Gerichtsschreibers Jakob Adalbert von Castelberg (†1691) geboren.1 Dank Zugehörigkeit zur führenden Aristokratenfamilie im Oberen Bund wuchs er in guten ökonomischen Verhältnissen im Schloss Chischliun auf. Anstatt einer Offizierskarriere wählte er die politische Bühne: Er erscheint 1704 erstmals als Gerichtsschreiber der Landschaft Disentis (Cadi), zwei Jahre später als Schreiber des Oberen Bundes und 1710/11 «durch gelt pra tic» – also Bestechungsgelder – als Landammann der Cadi.2 Erste Krönung des ehrgeizigen Aufstiegs bildete die Übernahme des Landrichteramts pro 1714/15. Dadurch gehörte er zur dreiköpfigen Führungsspitze der Drei Bünde. In der Folge war die Karriere von Höhen und Tiefen gekennzeichnet, bei denen Johann Ludwig eine sehr pragmatische Linie ging, die seinen immer zahlreicheren Feinden Angriffsflächen bot. Dank seines politischen Instinktes gelang es ihm jedoch, alle Krisen zu überstehen und seine Karriere als Oberst des Oberen Bundes abzuschliessen.3

Laut einer chronikalen Nachricht soll Johann Ludwig seinen Aufstieg dem Abt Adalbert de Medell zu verdanken haben, dessen Mutter Cornelia von Castelberg (†1628) war.4 Über seine Jugendjahre und Ausbildung ist nichts bekannt. Standesgemäss heiratete er Faustina von Cabalzar von Laax, mit welcher er fünf Kinder zeugte. Trotz der äbtischen Förderung verfasste er als regierender Mistral (Landammann) am 14. Dezember 1710 ein Dekret gegen die Interessen des Klosters, indem er nämlich den Übergang von Grundgütern an die «Tote Hand» mittels Schenkungen bekämpfte.5 Bei der Siedlung der Disentiser Aussensiedlung in Rumein im Lugnez wirkte er 1712 wiederum als Vertrauensmann der Abtei.6

Widersprüche sind vorerst auch in seiner parteipolitischen Gesinnung wahrnehmbar. Spätestens nach Ende des spanischen Erbfolgekriegs politisierte er jedoch klar für das habsburgische Kaiserhaus.7 So forderte Johann Ludwig 1712 als Anführer des Corpus Catholicum «aktive Waffenhilfe» für die katholischen Orte im Toggenburger Krieg, was unter Berufung auf die beschworenen Bündnisse vom Gotteshaus- und Zehngerichtebund abgelehnt und stattdessen Neutralität gewahrt wurde.8 Diese «leidenschaftliche» Stellungnahme für die eidgenössischen Katholiken gereichte ihm zwei Jahre später nicht zum Nachteil: Bei der turbulenten Landrichterwahl am 8. Mai 1714 trat Johann Ludwig als Gegenkandidat zum favorisierten Kaspar Deodat de Latour auf und gewann.9 Die unterlegene, mit den Franzosen sympathisierende Partei erstellte jedoch kurzerhand ein «Schattenparlament», das erst durch Intervention der Drei Bünde aufgehoben werden konnte.10 Das Ende der dominierenden Stellung der franzosenfreundlichen Partei war damit nicht nur in der Surselva, sondern in ganz Graubünden erreicht.

Dank provokativer Winkelzüge gelang Johann Ludwig auch 1720/21 und 1723/24 die Wahl zum Landrichter, wobei ihn jeweils sein Grossonkel Abt Marian von Castelberg nominierte. Vorgängig hatte er 1717/19 als Podestà in Traona im Veltlin geamtet.11 1724 siegelte er die erneuerten Statuten des Oberen Bundes, die nachträglich «en Ramonsch» übersetzt und veröffentlicht wurden.12 Einen weiteren Karriere-Höhepunkt bildete die Leitung der Gesandtschaft zur Erneuerung des Kapitulats mit Kaiser Karl VI. in Mailand 1726.13 Dabei wurden an die Gesandten aus den Drei Bünden reiche Geschenke verteilt. Ende Mai 1727 gehörte er zu den staatlichen Rechnungsprüfern (Syndikatoren) im Veltlin und setzte sich ferner aktiv für die Bischofswahl von Joseph Benedikt von Rost, eines gebürtigen Österreichers, ein. Hingegen wurden den Lukmanier-Ausbauplänen von Landrichter Johann Ludwig von Castelberg seitens der Drei Bünde ein Riegel geschoben.14

Unmut gegen die familiäre Interessenpolitik in der Cadi äusserte sich in Zehntenverweigerungen gegenüber dem Kloster Disentis, wobei Abt Marian ganz seinem Grossneffen ausgeliefert war und sich gegen alle Seiten verantworten musste.15 Nachdem die Castelbergisch-kaiserfreundliche Partei auch bei der Landrichterwahl am 8. Mai 1732 obsiegte, bliesen die Nachbarn von Breil/Brigels zum Sturm, zum «Sturz der Castelberg».16 Johann Ludwig zog sich nach Laax zurück und überliess die Politbühne der Latourpartei. Diese eröffnete mehrere Strafprozesse in Abwesenheit: Am 17. Mai 1736 wurden insgesamt 47 teils polemische und teils unbewiesene Anklagepunkte vorgebracht. Diese bezogen sich hauptsächlich auf Amtsübertretungen und Korruption. Der letzte Artikel fasste es folgendermassen zusammen: «Zumahlen 47» daß er ein außgemachter Geluresser, ohngerechter Gewaltäthiger, Betrieger etc. ist jederman bekannt.»17 Deswegen wurde er zu einer Verbannungsstrafe von 41 Jahren verurteilt. Da er sich indes nicht daran hielt, wurde er am 13. Juni desselben Jahres für vogelfrei erklärt.18 Jedermann konnte ihn nun jederzeit töten und ausliefern. Die Gerichtsbehörden von Disentis rechtfertigten ihre harten Urteile dann in einer Druckschrift.19

Dem Verbannten gelang indes schnell eine Rehabilitierung. Pro 1738/39 und 1741/42 amtete er wieder als Landrichter, ausserdem wurde sein Sohn Conradin 1741/42 und 1742/43 Landammann in Disentis.20 Er selber wohnte sicherheitshalber noch in Laax und liess sich erst 1746 wieder in Disentis/Mustér nieder.21 Zeitweise regierte er als Statthalter der Herrschaft Löwenberg-Schluein, die der Familie von Mont gehörte.22 Für seine diplomatischen Missionen bei den dreibündischen Grenzstreitigkeiten in Monticello gegenüber der Landvogtei Bellinzona, erhielt er wohl das Ehrenbürgerrecht in Roveredo.23Am St. Jörgen-Bundstag 1743 in Trun wurde er zum Bundesoberst erwählt, obwohl er über keine militärische Erfahrung verfügte.24 Seine Führungsqualitäten und diplomatischen Erfahrungen genügten. Daneben offenbarte er geschichtliches Interesse, indem er eine Inventarisierung des Bundesarchivs anregte und mit Johann Jakob Leu wegen des familiären Lexikoneintrags korrespondierte.25 Anschliessend war es bemerkenswert ruhig im Leben von Johann Ludwig. Am Bundstag vom 10. Mai 1758 wählte man einen Nachfolger als Bundesoberst, woraus Erwin Poeschel das vorher erfolgte Todesdatum herleitete.26

Trotz der imposanten Politkarriere sind wenige Selbstzeugnisse von Johann Ludwig von Castelberg vorhanden. Er betrieb eine rege Familienpolitik dank dem verwandten Abt, der ihn jedes Mal namens der Klosterherrschaft zum Landrichteramt vorschlug. Sein Übername «il pign» bezog sich bloss auf das Äussere;27 er war Machtpolitiker, der in der engeren Heimatregion geneidet, auf dem dreibündischen Parkett aber geschätzt wurde.

Dr. phil. Adrian Collenberg (*1966)
Studium in Allgemeiner Geschichte, Rätoromanistik und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Zürich Mitarbeiter der Schweizerischen Rechtsquellenstiftung
Verschiedene Editionen und Publikationen zu Rechts- und Sozialgeschichte in Graubünden

Fussnoten

1 Poeschel 1959, S. 302ff.; vgl. auch HBLS 2, S. 510; HLS 3, S. 229; LIR 1, S. 159.
2StAGR B/N 889: Schmid’s Kopialbuch, S. 274.
3 Poeschel 1959, S. 521; Maissen 1990, S. 60, wobei die erste Landrichterstelle fehlt.
4 Brunold/Collenberg 2010, S. 199.
5 Poeschel 1959, S. 304; Müller 1960, S. 93.
6 Berther 1954, S. 286f.
7 Pfister 1926, S. 139ff.; Poeschel 1959, S. 305.
8 Sprecher 1872/73, S. 182ff. und 192 (Zitat); Müller 1960, S. 75f.
9 Müller 1960, S. 91; zu den Auseinandersetzungen vgl. auch Theus 2002, S. 18–23.
10 StAGR AB IV 3/15, S. 382–393; Sprecher 1872/73, S. 192f.; Poeschel 1959, S. 309f.
11 Collenberg 1999, S. 73.
12 Bundi 2019, S. 176.
13 Zum zweiten Mailänder Kapitulat von 1726 vgl. Sprecher 1872/73, S. 202ff.; Pfister 1926, S. 139f.; Pieth 1945, S. 260 sowie Brunold/Collenberg 2010, S. 171.
14 Poeschel 1959, S. 319; Müller 1971, S. 140.
15 Tomaschett 1954, S. 73; Müller 1960, S. 209.
16 Poeschel 1959, S. 408.
17 SSRQ GR B III/1, Nr. 874.
18 Castelberg 1996b, S. 76.
19 KBG Be 264:27: «Brief des Magistrats zu Dissentis an alle Gemeinden der Drey Lobl. Bündten, zu seiner Rechtfertigung».
20Poeschel 1959, S. 456.
21 Poeschel 1959, S. 328–333; Müller 1960, S. 454.
22 SSRQ GR B III/1, Nr. 560 u. 564, Vorbem.
23 Maissen 1982, S. 278 und 286; Poeschel 1959, S. 327.
24 StAGR AB IV 3/18, S. 118; Maissen 2004, S. 295.
25 Poeschel 1959, S. 330.
26 StAGR AB IV 3/20, S. 32; Poeschel 1959, S. 334.
27 Poeschel 1959, S. 334.

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