Disentis/Mustér, Schloss Caschliun

Auf dem flachen Geländevorsprung am Eingang ins Dorf Disentis/Mustér stand bis 1874 das Schloss Caschliun. Erbaut wurde es zwischen 1570 und 1572 durch den Landrichter Sebastian von Castelberg (1540–1587),1 der nach seiner Rückkehr aus französischen Diensten, den für seine Zeitgenossen beeindruckenden Bau erstellte.2 So beschreibt 1598 Hans Ardüser den Sitz mit den Worten «Er [Sebastian von Castelberg] hat zu Disentis einen kostlichen [kostspieligen] Pallast erbauen lassen».3 Ganz im Sinne einer mittelalterlichen Burg, besass die Schlossanlage eine mit Zinnen bewehrte Ringmauer und einen Eckturm. Diese "Befestigung" hatte keinen fortifikatorischen Zweck, sie diente allein der Repräsentation. Hinweise, dass an derselben Stelle bereits im Mittelalter eine Burg gestanden hatte, sind nicht bekannt. Sebastian von Castelberg dürfte sich ganz in der Tradition seiner Vorfahren gewähnt haben, die sich u.a. mit der Burg Surcasti, und der Burg Castelberg in der Val Lumnezia im Burgenbau hervorgetan hatten.

Als die Franzosen 1799 die Klosteranlage und die Ortschaft Disentis niederbrannten, wurde das Schloss verschont, weil es französischen Offizieren als Unterkunft diente.4

1830 brannte das Schloss bei einer Feuersbrunst aus und blieb als Ruine stehen. 1872 veräussert der letzte Besitzer aus der Familie von Castelberg, Joachim Ludovic de Castelberg (1815–1879), die Schlossruine an die Firma Brüder Condrau AG. Diese liess das Schloss 1874 abbrechen und errichtete 1877 an derselben Stelle das Kurhotel Disentiser-Hof. Nach einem weiteren Verkauf und Umbau verblieb das Hotel bis 1967 im Besitz der Familie Tuor. Noch im gleichen Jahr wurde es von der Aktiengesellschaft Dienstiserhof AG erworben, 1978 abgebrochen und kurz darauf das bis heute bestehende Feriencenter Disentiserhof errichtet.5

Abbildungen 1–5 (oben)

Schloss Caschliun

Für den Bau seines Schlosses wählte Sebastian von Castelberg die weithin sichtbare Anhöhe Caschliun vor dem Eingang des Dorfes.6 Dessen Erscheinungsbild beherrschte nicht nur den Talkessel von Disentis, schon von weit unterhalb des Dorfes war die imposante Anlage zu sehen. Während die einflussreichen Familien im Freistaat der Drei Bünde ihre Herrschaftshäuser in möglichst dominanter Lage innerhalb der Dörfer errichteten, siedelte sich Sebastian von Castelberg selbstbewusst abseits von Disentis an einem Ort an, den auch ein mittelalterlicher Burgherr nicht besser als Bauplatz hätte wählen können. Überdies führte er den Titel eines Ritters und stellte sich mit dem Bau der schlossartigen Anlage ganz in die Linie seiner adeligen Vorfahren mit ihren mittelalterlichen Burgsitzen. Die Flur, welche den Namen Caschliun oder Chischliun trägt, und um 1500 in einem Kaufvertrag Castliun genannt wurde, könnte denn auch auf eine mittelalterliche Burgstelle hindeuten.7 Nachgewiesen ist eine solche an dieser Stelle jedoch nicht. Den Bauplatz dürfte Ritter Sebastian direkt vom Kloster St. Martin, dem sein Bruder Christian (1532/33–1584) als Abt vorstand, erworben haben.8 Wie sehr Sebastian von Castelberg sein Schloss als Burgsitz wahrgenommen haben wollte, lässt sich an dem von ihm gestifteten Altar in der Klosterkirche ablesen: hinter Vater und Sohn thront das Schloss Caschliun burgähnlich inszeniert auf einem hohen Fels.9 Das Stifterbildnis ist eine der raren, zeitgenössischen Darstellungen des Schlosses. In Wirklichkeit besass das Schloss mit Ausnahme seiner Umfassungsmauer mit Turm, nicht die im Bildnis dargestellte Wehrhaftigkeit. Darauf lässt auch die Darstellung des Schlosses auf einem Wandbild im Chor der Kirche Sogn Andriu bei Lumbrein schliessen. Auf dem Wandbild von 1668 erinnert das Wohnhaus mit Klebedächern über den Fenster und bezinnter Hofmauer mehr an einen herrschaftlichen Bauernhof denn an eine Burg.10

Der Kunsthistoriker Rudolf Rahn skizzierte die Ruine im September 1873, also ein Jahr bevor sie abgerissen wurde. Von ihm stammt auch die bislang einzig bekannte Grundrissskizze des Herrschaftssitzes. Zusammen mit weiteren Abbildungen und den wenigen fotografischen Aufnahmen, die nach dem Brand von 1830 entstanden sind, vermitteln sie eine Vorstellung der Anlage. Das Wohngebäude wies die Aussenmasse von circa 16 x 25 m auf. Der nördliche Gebäudetrakt war leicht zurückversetzt und um ein Geschoss niedriger gebaut. Der südliche Teil weist drei Geschosse auf. Das Eingangsportal in der Frontmauer an der Westseite, ist spitzbogig und mit Hausteinen ausgeführt. Es führte in einen überwölbten Gang der das Gebäude in zwei gleich grosse Teile gliederte. Von hier aus führte eine Treppe in die oberen Geschosse. Die Räume des Erdgeschosses haben wohl als Stau-, Vorrats- und Werkräume gedient. Der Kreuzgewölberaum an der linken Eingangsseite wurde von einem Schartenfenster beleuchtet. In der Frontfassade belichteten in unregelmässiger Anordnung spätgotische Staffel und Kreuzstockfenster das Treppenhaus und die Wohnräume des 2. und 3. Geschoss. Unterhalb der obersten Fenster, sind eine Reihe von Steinkonsolen zu erkennen. Gemäss der Malerei in der Kirche Song Andriu wies der südliche Gebäudeteil über den beiden oberen Geschossen ein Klebdach auf, dessen Streifbalken auf Konsolen ruhte. Möglicherweise sind die bei Rahn abgebildeten Vorstösse in der Westfassade die Überreste dieser für Graubünden doch eher aussergewöhnlichen Konstruktion. Rückwärtig ist im nördlichen Gebäudeteil im zweiten Geschoss ein vorkragender Backofen zu erkennen. Hier befand sich demnach die Küche. Gleich daneben standen zwei turmartig vorspringende Bauten, in denen sich die Aborte der beiden Wohngeschosse befanden. Möglicherweise überdeckte ein Krüppelwalmdach das Wohnhaus. In der Scheune, die an der Nordostecke des Geländes steht, waren möglicherweise der Fuhrpark und die Pferde des Ritters Sebastian von Castelberg untergebracht.

Wie für eine Burg üblich, war das ganze Schlossareal von einer mit Zinnen bekrönten Mauer umfasst. Links des Hoftores stand ein sechseckiger, zweigeschossiger Turm, der ebenfalls einen Zinnenkranz trug und ein Flachdach besass. An der Nordseite bildete die Umfassungsmauer eine hangwärts gerichtete Spitze. Dieser Mauerabschnitt blieb beim Abbruch des Gebäudes 1874 bestehen und diente dem danach erbauten Kurhotel als Lawinenkeil. Zum Grundstück gehörte auch eine eigene Quelle, welche mindestens einen Brunnen spiess und die Bewohner mit Trinkwasser versorgte.11

Abbildungen 6–11 (unten)

Auch wenn von der Inneneinrichtung des Schlosses nur wenig erhalten geblieben ist, so dürfte diese wohl reich und herrschaftlich gewesen sein und auch für höchsten Besuch und gesellschaftliche Anlässe ausgerichtet gewesen sein. So soll Ritter Sebastian angeblich bereits 1570 ein festliches Mahl anlässlich der Abtwahl seines Bruders Christian ausgerichtet haben.12 Auch beherbergte er den gefeierten Erzbischof und Kardinal Karl Borromäus anlässlich dessen Besuchs in Disentis im Jahr 1581 für kurze Zeit in seinem Schloss. Ebenso deutet die Notiz der Synopsis, dass Abt Christan nur selten an den häufigen und glänzenden Gastmählern des Bruders teilgenommen habe, auf die entsprechende Ausstattung des Haushaltes an.13

Zur Einfassung der Portale und Türen gehörten beschriftete Türsturze, das Fragment eines solchen wird im Klostermuseum von Disentis aufbewahrt. Der noch vorhandene Teil der Frakturschrift lautet: «15 Haptmann Sepasthanus von Chas..»,14 die fehlende Zahl ist vermutlich mit 1570 zu ergänzen. Der Stein könnte über der Stubentüre angebracht gewesen sein.

Abbildung 12 (unten)

Nachträglich stattete Sebastian von Castelberg sein Schloss mit einer Hauskapelle aus, die am 15. Juli 1548 zu Ehren der Heiligen Maria, Thomas, Sebastian, Lucius und Florinus geweiht wurde.15 Von deren Ausstattung könnte auch eine Kabinettscheibe stammen, die sich heute in Privatbesitz der Familie Rico von Castelberg befindet. Das Hauptbild stellt die Kreuzabnahme dar, darunter steht die Inschrift: Sebastian von Kastelberg Ritter Anno 1585." Links davon der kniende Stifter, rechts dessen Wappen.16

Abbildung 13 (unten)

Das Schloss verblieb auch nach dem Tod des Ritters Sebastian im Jahr 1587 im Besitz der Familie von Castelberg. Als beim verheerenden Brand von 1830 grosse Teile des Gebäudes zerstört wurden, blieb das Gebäude als Ruine zurück und wurde nicht wiederhergestellt, ausgenommen der östliche Gebäudeteil, welcher der Familie offenbar weiterhin als Wohnung diente.17 Der letzte Besitzer des Schlosses, Joachim Ludovic de Castelberg (1815–1879), verkaufte die Schlossanlage an die Firma Brüder Condrau. Diese liessen die Schlossruine 1874 abbrechen und errichteten 1877 an derselben Stelle das Kurhotel Disentiser-Hof. Die Brüder Condrau AG erhielten von der Gemeinde in Pacht die Quelle, welche im St. Plazitobel entsprang. Aus dieser sprudelte das kohlesäure- und eisenhaltige Mineralwasser mit der stärksten radioaktiven Strahlung aller bekannten Quellen der Schweiz. Ein Trinkbrunnen beim Eingang des Hotels stand allen Besucher frei zur Verfügung. Im Kurhaus waren Bäder für die Heilwasserkuren eingerichtet.18 Dr. Augustin Condrau d. J. führte das Hotel ab 1901 als Besitzer und Kurarzt. 1908 verkaufte er es an die Familie Tuor, in deren Besitz das Kurhaus bis 1967 verblieb.19 Die Aktiengesellschaft Disentiserhof AG erwarb damals das Hotel und liess es nach 1978 durch einen Neubau ersetzen, der heute noch besteht.20

M.A. Yolanda Sereina Alther (*1982)
Studium der Mittelalter-, Prähistorischen und Klassischen Archäologie an der Universität Zürich.
Arbeitet als Bauforscherin beim Archäologischen Dienst Graubünden.

Fussnoten

1 Cahannes 1899, S. 94.
2 Poeschel 1959, S. 154–155.
3 Ardüser 1598, S. 15 und 48; Kaufmann 1940, S. 250.
4 Buholzer 1927, S. 213.
5 Condrau, 1996, S. 202.
6 Cahannes 1899, S. 94.
7 Poeschel 1959, 166–167; KDGR V, S. 96.
8 Poeschel 1959, S. 167, Anm.2.
9 Poeschel 1959, S. 168; KDGR I, S. 160–161; KDGR V, S. 50.
10 KDGR IV, S. 192.
11 Condrau 1878, S. 4.
12 Affentranger 2016, S. 163.
13 Cahannes 1899, S. 95; Castelmur 1944, S. 64.
14 KDGR V, S. 96.
15 Müller 1936, S. 334; KDGR V, S. 96; Poeschel 1959, S. 168.
16 KDGR V, S. 76–77; Castelberg 1940, S. 18; Poeschel 1959, S. 168.
17 Freundliche Mitteilung Rico von Castelberg, Disentis/Mustér, 16.08.2024.
18 Condrau 1996, S. 201.
19 Condrau 1996, S. 201–202.
20 Condrau, 1996, S. 202.

Bibliographie (pdf)

Abb. 1: Disentis/Mustér, Schloss Caschliun aquarellierte Federzeichnung von Heinrich Keller, Datierung 1810–1830, Ausschnitt, nach Norden (Rätisches Museum Chur, Inventar-Nr. H2003.50.71.24).
Abb. 2: Disentis/Mustér, Schloss Caschliun mit der Kirche St. Placi, Radierung, nach einer Zeichnung von Tombleson. Datierung: 1832, nach Osten, Ausschnitt (Rätisches Museum Chur, Inventar Nr. H1973.96).
Abb. 3: Disentis/Mustér, Stahlstich von Ludwig Rohbock, Datierung 1861–1866, nach Norden. Die Ruine Caschliun nach dem Brand von 1830, rechter, mittlerer Bildrand (Rätisches Museum Chur Inventar-Nr. H1965.657).
Abb. 4: Disentis/Mustér, Schloss Caschliun, Fotografie nach dem Brand von 1830, nach Osten. (Privatarchiv Familie Rico von Castelberg, Disentis).
Abb. 5: Disentis/Mustér, Kloster St. Martin. Mittelbild des Castelberg Altars von 1572, Stifter Sebastian von Castelberg und sein Sohn (Poeschel 1959, Abb. XXX).
Abb. 6: Lumbrein, Kirche Sogn Andriu, Chor. Im Schild die Klosterkirche von Disentis (Yolanda Alther).
Abb. 7: Disentis/Mustér, Schloss Caschliun, Grundrissskizze der Erdgeschosse von Rudolf Rahn, 4. September 1873, die Masse nach Schritten (nach Skizzenbuch 430, S. 20, Zentralbibliothek Zürich).
Abb. 8: Disentis/Mustér, Schloss Caschliun. Westansicht, Rudolf Rahn, 4. September 1873 (Skizzenbuch 430, S. 17, Zentralbibliothek Zürich).
Abb. 9: Disentis/Mustér, Schloss Caschliun. Westansicht, Rudolf Rahn, 4. September 1873 (Skizzenbuch 430, S. 18, Zentralbibliothek Zürich).
Abb. 10: Disentis/Mustér, Schloss Caschliun. Ostansicht, Rudolf Rahn, 4. September 1873 (Skizzenbuch 430, S. 21, Zentralbibliothek Zürich).
Abb. 11: Disentis/Mustér, Tor und Turm von Schloss Caschliun. Ostansicht, Rudolf Rahn, 4. September 1873 (Skizzenbuch 430, S. 19, Zentralbibliothek Zürich).
Abb. 12: Steinernes Sturzfragment aus dem Disentiser Klostermuseum (Poeschel 1959, Tafel XXXV).
Abb. 13: Kabinettscheibe des Ritters Sebastian von Castelberg, 1585 (KDGR V, S. 77).

Hier finden sie Material zum Stifter, Guido von Castelberg.

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